Das gemeinsame Wohnzimmer

folgender Artikel von Harald Welzer
wurde zuerst veröffentlicht in der Flaschenpost vom 5. 11.2025

Die Erzählung, dass unsere schöne Gesellschaft zerfallen sei in unzählige Bubbles, Verschwörungsgemeinschaften und meist verfeindete Teilgrüppchen, ist so verbreitet, dass alle sie für wahr halten. Außer uns, FUTURZWEI. Denn wir sehen, dass zum Beispiel bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen 85 Prozent der Bürgerinnen und Bürger, die zur Wahl gegangen sind, ihre Kreuzchen bei verfassungstreuen Parteien gemacht haben. Wir sehen auch, dass sich mehr als 40 Prozent der Menschen im Ehrenamt engagieren. Wir sehen Hilfsbereitschaft im Alltag, Freundlichkeit an der Supermarktkasse, ein Schwätzchen in der Nachbarschaft, nette Polizist*innen. Kurz: Was angeblich ausgestorben ist, hat sich bestens gehalten.

Die große Spaltungserzählung stimmt also gar nicht, unser Land wird mehrheitlich von guten Leuten bewohnt. Nur kommen die in der medialen und politischen Kommunikation nicht vor – dort wohnen hauptsächlich Dauererregte, AfD-Wähler*innen, Antisemit*innen und überhaupt Problemfälle. Gegen diese verzerrte, aber wirksame Wirklichkeitsdarstellung brauchen wir eine Gegenerzählung, und zwar eine durch und durch analoge.

Eine solche Gegenerzählung wird fortlaufend und variantenreich in den „Wohnzimmern der Gesellschaft“ erzählt. Eine Idee, die ihren Ursprung in Helsinki hat: In der neuen Zentralbibliothek Oodi [1] kann man nicht nur Bücher ausleihen, sondern auch gemeinsam kochen, Videos drehen, Dinge reparieren, Musik machen und, ganz revolutionär, einfach nur chillen. Am Eingang steht: „Jeder hat das Recht, in der Bibliothek zu sein. Herumhängen ist erlaubt, ja sogar erwünscht. Rassismus und Diskriminierung haben in dieser Bibliothek keinen Platz. Oodi ist unser gemeinsames Wohnzimmer.“

Besser kann man die Bedeutung eines gemeinsamen Ortes für die Stadtgesellschaft und für die Demokratie kaum formulieren: „Das ist unser gemeinsames Wohnzimmer.“ Wenn jede Stadt, jede Gemeinde so einen Ort hätte, könnte man sich die ganzen gutgemeinten Demokratieprogramme sparen. Denn Demokratie muss – wie Vertrauen, wie Zusammengehörigkeit, wie Solidarität – analog gelebt werden. Deshalb braucht es analoge Orte der Begegnung.

Oodi ist ein großes Beispiel, eines, das in unzähligen Varianten überall nachgeahmt werden könnte. Und vieles gibt es längst: Volkshochschulen, Kirchen, Gemeinde- und Rathäuser, vielleicht auch Kantinen oder Werkstätten, Bibliotheken sowieso. Auch Räume in privatem Besitz können Orte analoger Begegnung sein. Man muss ihnen nur ihre exklusiven Nutzungsbestimmungen abtrainieren – und sie für alle öffnen. Für Filmabende, Stadtgespräche und Küchentisch-Politik, für Impro-Chöre oder Brettspiel-Nachmittage. Kurz: als multifunktionale Begegnungsorte, als offene Wohnzimmer der Gesellschaft, als eine analoge Strategie gegen die Zerstörung des Sozialen und damit eine Stärkung der Demokratie. 

All eyes on the people. Man muss den vernünftigen und klugen Menschen nur die Räume bereitstellen, in denen sie analog reden, debattieren, Pläne schmieden, streiten oder sich einig sein können. Und in denen sie sich gut fühlen können, weil sie sich vergewissern, Teil einer gemeinsamen Wirklichkeit zu sein. 

FUTURZWEI möchte alle Wohnzimmer der Gesellschaft im Land finden, kartieren, miteinander verbinden und demnächst auf futurzwei.org sichtbar machen. Melde Dich, wenn Du ein solches Wohnzimmer kennst – oder eines (er)öffnen willst. Ganz egal, ob einmal im Monat oder im Jahr, für ein Konzert, ein Essen, ein Gespräch oder einfach so. Hauptsache: offen. Ganz einfach.

Ein Artikel zum Wiedererwachen der Bibliotheksidee ist zu finden im Haibischl unter https://haibischl.de/bibliotheken-wieder-stark-im-kommen/

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