von Sven Giegold, MdEP
Um gestärkt aus der Corona-Krise zu kommen und uns in der Zukunft vor ähnlichen Katastrophen zu schützen, müssen wir nachhaltiger (und europäischer) handeln. Der wirtschaftliche Aufschwung nach Corona muss auf Grundlage von massiven Investitionen in zukunftsfähige, sichere Technologien erfolgen. Die EU-Kommission hat erst im Dezember das wahrscheinlich größte nachhaltige Wirtschaftsprogramm in der Geschichte Europas verkündet: den Europäischen Green Deal. Er ist ein beeindruckendes Zeugnis europäischen Klima- und Umweltschutzes, der die europäische Wirtschaft bis zum Jahr 2050 grundlegend reformieren und zukunftssicher machen wird.
Doch bevor der Green Deal richtig losgeht, intervenieren bereits Vertreter unterschiedlichster Industrien und politischer Parteien mit der Corona-Krise als Vorwand. Sie fordern, die Ziele des Green Deal wahlweise abzuschwächen, zu verschleppen oder gleich ganz zu begraben. Wir haben die lange Liste der Lobbyversuche zusammengetragen. Sie beinhaltet klassische Industriezweige wie Automobilhersteller und Fluggesellschaften, aber auch von der Krise weit weniger getroffene Sektoren wie die Plastikindustrie und Elektronikhersteller. Sie alle haben sich gegen Umwelt- und Klimaschutz ausgesprochen und es mit der Corona-Krise begründet… Ich möchte hier mit euch und Ihnen weitere Beispiele dieser unverschämten Lobbykampagnen teilen:
1. In Deutschland setzen sich die Autolobbyisten dafür ein, dass eines der Kernversprechen des Green Deals nicht umgesetzt wird. Sie fordern von der Bundesregierung, die im Green Deal angekündigte Überprüfung und Verschärfung von CO2-Grenzwerten für PKW zu verhindern. Dazu intervenierten die deutschen Hersteller wiederholt bei der Bundesregierung, obwohl diese sich schon im Januar auf die Seite der Automobilindustrie und gegen den Green Deal geschlagen hatte.
In Brüssel verlangt der europäische Dachverband der Automobilindustrie in einem Brief an die Präsidentin der EU-Kommission, bereits vor Jahren beschlossene Ziele zur CO2-Reduzierung zu verschieben. Es sind eben jene Ziele, die dafür sorgen sollen, dass die Industrie in zukunftsfähige CO2-freie Autos investiert. Dabei waren es wohl vor allem amerikanische Hersteller, die diesen Brief vorangetrieben haben. Deutsche Autobauer wollten anscheinend immerhin keine Verschiebung schon beschlossener Ziele fordern.
2. Fluggesellschaften, die bald in ganz Europa mit Milliarden Euro Steuergeld gerettet werden müssen, positionieren sich schon jetzt scharf gegen jegliche Steuern auf Kerosin. Damit in Zukunft niemand auf die Idee kommt, über angemessene Abgaben auf den fossilen Brennstoff nachzudenken, wenn durch den Flugverkehr wieder reichlich Gewinne erflogen werden.
3. Bauernverbände versuchen, das menschliche Leid sowohl in Deutschland wie auch auf EU-Ebene auszunutzen. In Brüssel setzt sich der Dachverband für eine Verschiebung der “Vom Hof auf den Tisch” Strategie ein. Diese im Green Deal angekündigte Strategie soll die europäische Agrarindustrie nachhaltiger machen. Sie zu verschieben zögert nicht nur dringend notwendige Reformen hinaus, es blockiert auch Investitionen in zukunftsfähige Technologien im Agrarsektor.
Um neue Regeln zur Verringerung der massiven Belastung unserer deutschen Gewässer durch Düngemittel zu verhindern, drohten die Bauern gar mit einer absichtlichen Verknappung der Lebensmittelproduktion in der Krise. Die neue deutsche Düngeverordnung wurde am Ende gegen den großen Widerstand der Bauernverbände angenommen. Das Inkrafttreten wichtiger Teile der Verordnung wurde jedoch tatsächlich vom Bundesrat um drei Monate verschoben.
4. Die Christdemokraten im Europaparlament (EVP) sind sich nicht zu schade, die globale Krise zu nutzen, um, ganz wie die Bauernlobby, eine erneute Verschiebung der dringend benötigten Agrarstrategie des Green Deal zu fordern. Sie nutzen die Corona-Pandemie als Steigbügelhalter, um wichtige Reformen in der Landwirtschaft zu verschleppen. Dabei wissen wir: neben dem Klimaschutz sind es insbesondere mehr Biodiversität und nachhaltige Praktiken in der Landwirtschaft, die in der Zukunft helfen können, globale Epidemien zu vermeiden. Die Agrarstrategie der EU-Kommission, die bereits im März vorgestellt werden sollte, soll nach Wunsch der EVP bis “mindestens nach dem Sommer” verschoben werden.
5. Die Plastikindustrie bittet die EU-Kommission, die Frist für die Umsetzung der Einwegplastik-Richtlinie auf nationaler Ebene um mindestens ein weiteres Jahr zu verschieben. Darüber hinaus sollen alle Verbote für Einwegkunststoffe aufgehoben werden. Doch was die Corona-Krise mit Plastikbesteck und Trinkhalmen zu tun hat, können sie nicht erklären. Diese Verbote wurden in der EU-Einwegplastik-Richtlinie im Jahr 2019 beschlossen. Die Mitgliedstaaten müssen die Verbote und weitere Maßnahmen zur Verringerung der Nutzung von Einwegplastik ab Juli 2021 umsetzen.
6. Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat in einem Schreiben an die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) gefordert, auf Grund der Corona-Krise die Einführung einer Datenbank für gefährliche Chemikalien in Produkten zu verschieben. Die Datenbank soll Verbrauchern, Behörden und Produzenten mehr Transparenz ermöglichen. Verbraucher sollen so besser abschätzen können, welche besonders gefährlichen Chemikalien sich in Produkten befinden und wie sie mit diesen Produkten umgehen müssen.
Der BDI erhofft sich auch, dass das Verbot von Perfluoroctansäure (PFOA), einer äußerst langlebigen Chemikalie verschoben wird. PFOA reichert sich im Körper und in der Umwelt an und wird praktisch nicht abgebaut. Die EU-Kommission hatte das Verbot dieser gefährlichen Substanz bereits im letzten Jahr beschlossen. Es soll im Juli 2020 in Kraft treten. Darüber hinaus fordert der BDI, Konsultationen zu Einschränkungen und Verboten von Chemikalien sollten verschoben werden und die Arbeit an neuen Maßnahmen erst gar nicht angefangen werden.
7. Business Europe, der wohl mächtigste Lobbyverband in Brüssel, zu dessen Mitgliedern neben dem Bundesverband der deutschen Industrie zahlreiche namhafte deutsche Unternehmen – von Bayer und Bosch über Henkel und Siemens bis zu Volkswagen – zählen, verkündet: es sei unausweichlich, dass der Zeitplan und der Umfang neuer, großer europäischer Initiativen geändert werden müsse. Alle Konsultationen im Umwelt- und Klimabereich sollten ausgesetzt werden.
Mindestens zwei Business Europe Mitglieder, Renault und ENGIE, haben sowohl den Brief des Lobbyverbands unterschrieben, als auch den Aufruf für eine “Green Recovery”, den mehr als 180 Politiker, CEOs und Vertreter der Zivilgesellschaft unterzeichnet haben, darunter auch ich und viele andere Grüne. Sie nutzen ihren guten Namen also in öffentlichen Aktionen für Umwelt- und Klimaschutz, kämpfen aber versteckt in einer anonymen Lobbyorganisation für das genaue Gegenteil.
8. Einzelhändler haben gleich einen ganzen Katalog von Vorschlägen, um den Green Deal aufzuweichen. Auf europäischer Ebene wollen die Vertreter der Einzelhändler unter anderem genau wie der BDI eine neue Datenbank mit Informationen zu gefährlichen Substanzen in Produkten hinauszögern. In Deutschland bitten sie die Bundesregierung, wichtige Teile des neuen Kreislaufwirtschaftsgesetzes zu begraben. Auch hier sträuben sich die Verbände gegen neue Regeln zur Transparenz. Der Handelsverband Textil fordert, nach der Corona-Krise Zugangsbeschränkungen für Autos in Innenstädten, also Umweltzonen und Umweltspuren in Deutschland aufzuheben.
9. Die Schifffahrtsindustrie droht: “wenn die Fristen (des Green Deal) um jeden Preis eingehalten werden, ohne zuvor die Gesundheit unserer Wirtschaft und unserer Mitarbeiter zu berücksichtigen, werden Tausende von Unternehmen und Arbeitnehmern zurückbleiben”. Sie verschweigt, dass nur mit Investitionen in nachhaltige Schiffe Arbeitsplätze auf dauer gesichert werden können.
10. Die Stahl- und Zementindustrien erhofften sich eine Ausnahme vom Europäischen Emissionshandel (ETS). Sie wollen Fristen um die Emissionen im letzten Jahr an die EU zu melden wollten sie auf Grund der Corona-Krise verschieben.
11. Der Verband der Verbrauchertechnologie fordert die EU- Kommission in einem Schreiben auf, neue Ökodesignregeln für externe Netzteile auszusetzen. Diese wurden am 1. Oktober 2019 beschlossen und traten am 1. April 2020 in Kraft. Der Brief der Lobbyverbands kam erst am 6. April, also zu einem Zeitpunkt, an dem die Hersteller sich schon an die neuen Regeln hätten halten müssen.
12. SME Europe, die Wirtschaftsvereinigung der Europäischen Volkspartei (EVP), fordert in einem Schreiben an die Präsidentin der EU-Kommission ein neues “Instrument einzurichten, das es der Kommission ermöglicht, die Frist für neue Gesetze zu verschieben, die sonst während der Krise in Kraft treten würden”. Auch sie fordern unter anderem neue Ökodesignregeln für Ladegeräte zu verschieben.
13. Der Generalsekretär des Wirtschaftsrates der CDU fordert, “alle Sonderbelastungen der deutschen Wirtschaft auf den Prüfstand” zu stellen, dazu gehören auch die Klima- und Energiepolitik. Auf EU-Ebene solle sich Deutschland “für eine zeitliche Streckung der klimapolitischen Zielvorgaben einsetzen“.
14. Die AfD will wegen der Corona-Krise die Energiewende beenden, den Kohleausstieg rückgängig machen und das Erneuerbare-Energien-Gesetz abschaffen.
15. Der umweltpolitische Sprecher der rechtskonservativen bis rechtspopulistischen EKR-Fraktion im Europaparlament fordert von der Kommissionspräsidentin, alle neuen Gesetze und Initiativen des Green Deal bis nach der Corona-Krise zu verschieben. Die Kommission solle ihre regulatorischen Ambitionen von vor der Krise radikal reduzieren und ihre politischen Prioritäten überprüfen.
16. Der liberale tschechischer Premierminister Andrej Babiš will den Green Deal gleich ganz “vergessen”.
17. Die polnische Regierung will Ausnahmen für Polen vom europäischen Emissionshandel herausschlagen.
Auf dieses Spiel dürfen sich die EU-Kommission, das Europaparlament und die Mitgliedstaaten keinesfalls einlassen. Gerade in Krisenzeiten müssen wir an die Zukunft denken. Wenn wir jetzt nicht handeln, wird zu dieser Zukunft eine sich anbahnende Wirtschaftskrise genauso zählen wie der Kollaps der Ökosysteme, ungeahntes Artensterben und unaufhaltsamer Klimawandel. Der Europäische Green Deal ist das Fundament für den wirtschaftlichen Wiederaufschwung und unser europäischer Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz. Ihn zu verschleppen würde bedeuten, die Zukunft Europas aufs Spiel zu setzen.