von Gastautor Sandra Kirchner, Autorin bei Klimareporter
90 Prozent erneuerbare Energien schon 2040, Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2030, Tempo 120 auf Autobahnen: Viele Maßnahmen, vor denen die Regierung zurückschreckt, fordert der „Bürgerrat Klima“. Die ausgelosten Bürger:innen legen einen ambitionierten Maßnahmenkatalog vor.
Keine einfache Sache: 160 zufällig geloste Menschen diskutierten acht Wochen lang per Videokonferenz, wie Deutschland klimaneutral werden kann.
In knapp einem Vierteljahrhundert – 2045 – will Deutschland klimaneutral sein. Eine Herkulesaufgabe. Bislang ist es gerade mal gelungen, die Treibhausgasemissionen um 40 Prozent im Vergleich zu 1990 zu senken.
Dass für die „restlichen“ 60 Prozent nun ein echter Kraftakt nötig wird, liegt vor allem daran, dass die Politik beim Klimaschutz in den vergangenen 30 Jahren getrödelt hat. Sie hat es versäumt, angemessene Klimaziele und Maßnahmen zu beschließen.
Erst das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wonach Teile des Klimagesetzes von 2019 nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, hat die große Koalition aufgeschreckt. Eilig will sie nun beschließen, dass Deutschland nicht erst 2050 klimaneutral werden soll, sondern fünf Jahre eher. Doch wie das Ziel erreicht werden soll, bleibt weiter unklar.
Konkrete Vorschläge, wie Deutschland seine Emissionen senken kann, haben in den vergangenen acht Wochen 160 zufällig ausgeloste Bürger:innen im „Bürgerrat Klima“ erarbeitet. Wie bei solchen Räten üblich, war das Auswahlverfahren so gestaltet, dass die Ausgelosten eine Art „Mini-Deutschland“ bildeten.
Seit Ende April trafen sie sich in Videokonferenzen und diskutierten abends und am Wochenende über mögliche Maßnahmen zum Klimaschutz. Herausgekommen sind knapp 80 Handlungsempfehlungen für die Politik.
Das sind die Hauptforderungen des Bürgerrats:
Energie
Bis 2035 soll die Stromversorgung zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Der Ausstieg aus der Kohleverstromung soll 2030 – also acht Jahre früher als bislang geplant – vollzogen sein.
Die gesamte Energieversorgung soll 2035 zu 70 Prozent und 2040 zu 90 Prozent aus erneuerbaren Quellen bestritten werden.
Jedes Bundesland soll mindestens zwei Prozent seiner Fläche für den Ausbau von Photovoltaik und Windkraft bereitstellen. Jede Kommune soll bis 2023 einen Plan zum Erreichen der Klimaneutralität bis 2030 entwickeln – unter Beteiligung von Bürger:innen.
Für sogenannte negative Emissionen bevorzugen die Bürger:innen natürliche CO2-Senken wie Moore und Bäume. Die CO2-Speicherung unter der Erde lehnen sie ab.
Viele der gemeinsam entwickelten Maßnahmen in diesem Bereich erhielten eine große Zustimmung. Sie lag in der Regel bei 80 oder 90 Prozent, zum Teil sogar darüber.
Mobilität
Der öffentliche Personennahverkehr soll umfangreicher, attraktiver und günstiger werden.
Finanzmittel für Verkehrsinfrastruktur sollen in den Ausbau von Schienenwegen und Radverkehr statt in den Straßenbau fließen. Subventionen für den motorisierten Individualverkehr sollen zu klimafreundlicher Mobilität und ressourcenschonenden Verfahren umgeschichtet werden.
Die Bürger:innen votieren für ein Tempolimit von 120 km/h auf Bundesautobahnen und Kraftfahrstraßen, 80 km/h auf Landstraßen und 30 km/h in Innenstädten. Der Punkt war aber innerhalb des Bürgerrats umstritten. Am Ende stimmten 58 Prozent dafür.
Die Erstzulassung für Pkw mit Verbrennungsmotor soll 2030 eingestellt werden. 79 Prozent der Beteiligten sprachen sich dafür aus.
Kurzstreckenflüge sollen vermieden werden. Die Ticketpreise für das Fliegen sollen die Klimakosten abbilden – dafür soll die Kerosinsteuerbefreiung aufgehoben und die Luftverkehrssteuer erhöht werden.
Gebäude
Öffentliche und behördliche Gebäude soll bis 2036 energetisch saniert werden.
Der Einbau von Öl- und Gasheizungen wird ab 2026 und 2028 verboten.
Die Kosten einer energetischen Sanierung von Wohngebäuden soll zu 50 Prozent der Bund tragen, jeweils 20 Prozent sollen Kommune und Wohnungseigentümer:in beisteuern. Die verbleibenden zehn Prozent sollen die Mieter:innen zahlen. Beinahe drei Viertel der Beteiligten sprachen sich für den Vorschlag aus.
Ernährung
Bis 2030 sollen die Landwirtschaft und der Ernährungssektor klimafreundlich werden. Ein entsprechendes Gesetz zur Einschränkung der Emissionen in der Landwirtschaft soll sich am 1,5-Grad-Ziel orientieren.
Eine Landwirtschaftskommission soll die Agrarwende begleiten. Es sollen verbindliche Vorgaben verabschiedet werden – etwa sollen die Nutztierbestände so weit verringert werden, dass sich die Emissionen aus der Tierhaltung mindestens halbieren.
Die Überproduktion von Nahrungsmitteln in Deutschland soll verringert werden, ebenso die Verschwendung und Vernichtung von Lebensmitteln.
Bis 2030 soll eine „Klimaampel“ für alle Lebensmittel eingeführt werden. Werbung für klimaschädliche und ungesunde Produkte, die sich vor allem an Kinder richtet, soll verboten werden.
Instrumente
Der CO2-Preis soll als verbindliches Instrument zum Erreichen des 1,5-Grad-Ziels beitragen. Berechnung, Einnahmen und Verwendung sollen transparent für die Bürger:innen dargestellt werden.
Bei der Verteilung der Einnahmen waren die Beteiligten im Rat uneins. 40 Prozent stimmten dafür, das Geld für den Ausbau klimafreundlicher Infrastrukturen zu verwenden. Knapp ein Drittel wollte es den Bürger:innen direkt zugutekommen lassen. Etwa ein Fünftel wollte die Gelder zur Erforschung und Entwicklung klimaneutraler Technologien einsetzen. Eine Mischung aus allen drei Optionen erhielt mit über 90 Prozent den größten Zuspruch.
Zum Ausgleich für die Mehrausgaben infolge des CO2-Preises soll außerdem eine Klimadividende oder Pro-Kopf-Pauschale eingeführt werden.
Drei Viertel stimmten auch für globale Klimagerechtigkeit: Ein Teil der Einnahmen aus dem CO2-Preis soll für das Abfedern der Klimaschäden in den am meisten betroffenen Regionen eingesetzt werden.
Schließlich soll ein Pro-Kopf-Klimabudget eingeführt werden. Dafür sprachen sich rund zwei Drittel der Bürger:innen aus.
„Die Bevölkerung ist weiter als die Politik“
Viele der Maßnahmen sind sehr ehrgeizig, beispielsweise die komplette Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Quellen bis 2040. Vieles wurde auch schon oft vorgeschlagen und von der Politik immer wieder beiseite gewischt, wie etwa das Tempolimit.
„Vielleicht sind die Bürgerinnen und Bürger schon weiter, als die Politik und manche Kommentatoren es bisweilen vermuten“, sagte Horst Köhler, Schirmherr des Bürger:innenrats, bei der Vorstellung der Empfehlungen. Den Klimawandel zu bremsen sei eine Aufgabe, vor der sich niemand mehr wegducken könne. Die Ratsergebnisse seien ein Appell an die Politik, das schon 2015 von ihr selbst Vereinbarte endlich umzusetzen – nämlich das 1,5-Grad-Ziel.
„Die beschlossenen Empfehlungen zeigen, dass Bürgerinnen und Bürger in erheblichem Umfang bereit sind, mehr für den Klimaschutz zu leisten, als ihnen in der politischen Diskussion oft zugetraut wird“, glaubt auch Wolfgang Lucht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Das Ergebnis eine ausgezeichnete Grundlage für die künftige Klimapolitik in Deutschland. „Sie sollten von der Politik als Auftrag verstanden werden.“
Die Initiative für den Bürgerrat Klima war von der Gruppe Scientists for Future und dem Verein Bürgerbegehren Klimaschutz ausgegangen. Die Kosten von zwei Millionen Euro werden von drei Stiftungen und aus Spenden getragen. Begleitet wurde der Bürgerrat durch ein wissenschaftliches Kuratorium aus 29 führenden Fachleuten der Klima- und Gesellschaftswissenschaften, dem auch Lucht angehörte.
Da die Empfehlungen nicht verbindlich sind, ist nun die Frage, was davon Politik wird. Das Nachbarland Frankreich hat bereits Erfahrungen damit. Der dortige Bürgerrat zum Klimaschutz war von Präsident Emmanuel Macron selbst 2019 eingesetzt worden. Ergebnis waren 149 Empfehlungen zur Senkung des Treibhausgasausstoßes.
Nur ein Teil der Vorschläge wie etwa die Einschränkung von Inlandsflügen und ein Verbot von Werbung für fossile Brennstoffe fand – häufig in abgeschwächter Form – Eingang in ein neues Klimagesetz.