von Gastautor Daniel Freund – Mitglied des Europäischen Parlaments
Europa erneuern funktioniert nicht ohne unsere Bürgerinnen und Bürger. Deshalb haben wir Grüne durchgesetzt, dass Bürger*innenversammlungen das Herzstück der Reformkonferenz zur Zukunft Europas sind. Am vergangenen Wochenende trafen sich in Strasbourg 200 zufällig geloste Europäer*innen, um Pläne für eine Erneuerung der Europäischen Demokratie auszuarbeiten. Welche Ideen hatten sie und wie lässt sich daraus Politik machen?
Wie fühlt sich das an, wenn plötzlich eine unbekannte Nummer anruft und verkündet, das man für eine Europäische Bürgerversammlung ausgewählt wurde? Mehrere Bürger*innen sagten mir am vergangenen Freitag in Straßburg, dass sie zunächst an einen Scherz oder eine Betrugsmasche glaubten. Erst als sie im Plenarsaal Platz genommen hatten, wurde ihnen klar, dass sie Teilnehmer*innen an Europas größtem Demokratie-Experiment sind. Hier wird die Idee der Europäischen Bürgerversammlung Realität.
Wie läuft die Kommunikation, wenn jede*r eine andere Sprache spricht?
Wenn 200 Bürger*innen aus den unterschiedlichsten Winkeln Europas zusammenkommen, stellt sich zuerst die Frage nach der Kommunikation. Um die sprachlichen Hürden zu überbrücken, wird jedes gesprochene Wort Simultan übersetzt. So passiert das auch in den Sitzungen des Europäischen Parlaments. Nach ersten Startschwierigkeiten mit Kopfhörern und Übersetzungsverzögerung entwickelt sich aber schnell eine lebhafte Debatte.
Organisiert wurde die Diskussion in Arbeitsgruppen von bis zu 15 Personen, die konkrete politische Fragen in den Fokus stellten. Begleitet wurden sie von einer Moderation und Expert*innen-Inputs. Es ist erstaunlich zu beobachten, dass ein Lehrer aus Frankreich, eine Angestellte aus Deutschland oder ein Pensionär aus Italien in kurzer Zeit bei den gleichen Problemstellungen ankommen, die auch uns Abgeordnete im Europäischen Parlament beschäftigen: Warum braucht es die Einstimmigkeit im Rat, wenn das so viele Dinge ausbremst? Wie wäre es, an den Vereinigten Staaten von Europa zu bauen? Kann eine Sozialversicherungskarte nicht EU-weit gelten? Alle eint das Unverständnis darüber, was eine zukunftsfähige Politik in Europa gegenwärtig blockiert.
Wie kann aus der Diskussion konkrete Politik werden?
Die Bürger*innenversammlungen wurden ins Leben gerufen, um die Reformblockade der Europäischen Union zu lösen. Dementsprechend groß ist die Erwartungshaltung – auch auf Seite der Bürger*innen. Ob diese Panels wirklich einen Effekt haben und daraus neue Politik folgt? Diese Frage wurde mir häufiger gestellt. Die Antwort darauf ist komplex. Die Verbindlichkeit der Bürger-Vorschläge hängt davon ab, wie viel Aufmerksamkeit die Bürger*innenversammlungen und die Konferenz-Plenarsitzungen bekommen werden, wo sie präsentiert werden. Wirkliche Versprechen und Entscheidungen können nur Parlament und Rat selbst nach der Konferenz treffen. Die Konferenz versammelt aber Vertreter*innen aller Institutionen. Wenn die Bürger*innen in den Arbeitsgruppen und im Plenum der Zukunftskonferenz breite Zustimmung zu ihren Vorschlägen erreichen können und Europa dabei zuschaut, kommt politisch hinterher niemand daran vorbei.
Nicht genug Zeit für Zukunftsfragen?
Keine Frage: Die Bürger*innenversammlungen sind der Teil der Zukunftskonferenz, der am besten funktioniert. Aber reicht die Zeit, um ausreichend Schlagkraft zu entwickeln? Nach diesem ersten Wochenende haben die Zufallsbürger*innen jeweils nur noch zwei weitere Wochenenden, eines online und eines in einer anderen europäischen Stadt: Warschau, Maastricht, Florenz und Dublin. Das ist knapp, um konkrete Vorschläge zu erarbeiten. Vergleichbare Bürger*innenversammlungen in Irland (Ehe für Alle, Abtreibung) und Frankreich (Klima) hatten deutlich mehr Zeit und deutlich begrenztere Politik-Felder zu bearbeiten.
Am kommenden Wochenende startet bereits die nächste der insgesamt vier Bürgerversammlungen. Sie soll in nur drei Tagen erste Ideen zu Klima, Umwelt und Gesundheit erarbeiten.
Wer mit Zufallsbürger*innen in Kontakt treten möchte, kann über das gemeinsame Sekretariat der Konferenz anfragen: commonsecretariat@futureu.europa.eu